„Pinkeln Sie lieber mit oder ohne Musik?“

Alles und jeder wird heute bewertet. Händler, Ärzte, Hotels, Staubsauger, Referenten, Dozenten, Prostituierte – alle erhalten Noten von den Kunden. In München soll es eine Klofrau geben, die individuelle Wünsche nach Musikbegleitung beim Pipimachen erfüllt – wenn man verspricht, sie gut zu bewerten.

Was für viele als Kinder in der Schule schon ein Horror war – beurteilt zu werden, sich vergleichen zu müssen – setzt sich inzwischen bis in den hintersten Winkel des Erwachsenenlebens fort. In der US-Serie „Black Mirror“ vergeben die Menschen mittels einer App im Auge ständig Punkte auf einer Skala von eins bis fünf an ihre Mitmenschen. Der Score entscheidet über den sozialen und ökonomischen Status, über Job-Möglichkeiten, Freundschaften und die Chancen auf dem Wohnungsmarkt.

Allzu abwegig ist dieses Szenario nicht: Es gibt bereits Netzwerke wie Rate me oder Tellonym, bei denen Nutzer sich gegenseitig Feedback für ihr Aussehen geben. Ich kenne Leute, die sich Gesprächsthemen überlegen bevor sie in ein Uber steigen – eine gepflegte Konversation mit dem Fahrer erhöht die Chance auf eine Fünf-Punkte-Bewertung. Andere überlegen genau, wie sie zur Hebung ihres Selbstbewusstseins möglichst viel Clicks und Likes in den sozialen Netzwerken generieren. Und die gefälschten Amazon-Rezensionen erfolgloser Autoren, die Lobeshymnen über die eigenen Bücher verfassen, sind Legion.

Die meisten Menschen lechzen nicht nur nach Bestätigung, sondern lieben es auch, ihre Meinungen zu verbreiten. Diejenigen, denen sonst niemand zuhört, haben mit dem Internet endlich ein Medium gefunden, in dem sie sich ungehemmt entfalten können. Wie viel Zeit und Energie manche Nutzer in die Abfassung von Produkt-Rezensionen investieren, lässt einen staunen. Und ihr Urteil zählt, denn es kann eine Gesamtbewertung spürbar verändern. Endlich bekommen diese Leute, was ihnen im Leben fehlt: Macht. Wenigstens ein bisschen.

Denn wir alle lassen uns von Bewertungen beeinflussen. Kaum jemand scheint noch mutig genug zu sein, eigene Erfahrungen zu riskieren. Lieber vertraut man den Urteilen fremder Leute, so unzuverlässig diese auch sein mögen. Längst gibt es Bots, die das Notenbild verfälschen oder bösartige Mitbewerber, die der unliebsamen Konkurrenz mit negativen Bewertungen schaden wollen. Trotzdem sind wir bereit, unsere Kaufentscheidungen danach auszurichten, wie viele Sterne neben einem Produkt abgebildet sind. Und fühlen uns – wider besseren Wissens – geschmeichelt, wenn unsere Facebook-Community uns zujubelt. Ich werde bewertet, also bin ich.

Wie viel Stress das auslösen kann, liegt auf der Hand. Man stelle sich den jungen Mann vor, der sein Konterfei auf Rate me postet und nun mit den Kommentaren leben muss. „Bei deiner Akne höchsten 2-3 von 10“ ist da noch einer von den harmlosen. Negatives Feedback haben wir fast alle schon erlebt und wissen, wie schmerzhaft es ist. Bewertung bedeutet eben oft nicht Bestätigung, sondern Demütigung.

Ganz anders beim Coaching. Für einen guten Coach ist es selbstverständlich, den Klienten n i c h t  zu bewerten. Ihm und seinem Anliegen offen und vorurteilsfrei zu begegnen. Nicht schon alles zu wissen und keine Meinungen über sein Verhalten parat zu haben. Im Coaching muss niemand sich beweisen oder vergleichen. Die Coaching-Praxis ist eine bewertungsfreie Zone – schon dafür zahlen manche Klienten gerne Geld.